Montag, 9. November 2009

Mauerfall: Ruth und ich waren in Wiesbaden

Ein Teil unserer Familie hatte sich am 09. November 1989 aus einem ganz anderen Grund in Wiesbaden versammelt. Nach einem langen Spaziergang mit meinen Hunden im Biebricher Schlosspark stand ich unter der Dusche, als Judith ohne anzuklopfen ins Badezimmer stürzte und rief: «Die Mauer fällt!» Erschrocken öffnete ich die Augen, sah gerade noch, dass Judith weinte, bevor mir alles, was an Shampoo und Seife brennen kann, in die Augen lief.
 
Die folgenden Stunden bis am frühen Morgen des nächsten Tages bildeten rückblickend eine Nacht der Tumulte und des Schweigens zugleich. Die älteren Familienangehörigen, die einst für den Massenmörder namens «Führer» viel zu unarisch gewesen waren, weinten. Trotz aller Erinnerungen bahnte sich für sie ein zweiter grosser Glücksfall an. Lange Augenblicke starrten sie still vor sich hin, um unverhofft zu äussern: «Dass wir das alles überlebten …»
 
David hatte sich mit meinen Hunden in eine Ecke zurückgezogen und lockte mich mit Blicken an. Es musste sich in der Tat was Immenses ereignet haben. Der Fernseher lief pausenlos, David informierte mich rasch, und wir entschlossen uns nach kurzer Lagebesprechung, als jüngste erwachsene Familienmitglieder die Situation zu managen.
 
Dazu lieferte die schon damals uralte Ruth, die mich aus unerklärlichen Gründen stets «Niki» rief, die durchschlagende Idee: «Niki, nimm den Leuchter – du weisst schon, nimm einfach alles, was du findest.» - raunte sie mit zu, während sie mich am Ärmel festhielt. So zündeten wir alle Kerzen an, die irgendwie im Haus aufzutreiben waren und kreierten vollkommen ausser Kurs das grösste Lichterfest aller Zeiten.

***

Ruth und ihrer Schwester war damals die Flucht aus Warschau nach Paris noch rechtszeitig gelungen. Irgendwann kehrten die jungen Frauen über andere Länder nach Europa zurück und liessen sich in Wiesbaden nieder. Wir kamen meist am heutigen Datum zusammen, und wenn Ruth von jener Zeit sprach, als sie noch «zufrieden» gewesen seien, meinte sie die Zeit vor dem 09. November 1938.
 
Seit Tagen hatte Ruth trotz guten Zuredens nicht mehr aufstehen wollen. Nach einem Sturz nur leicht verletzt, war sie befallen worden von bodenloser Traurigkeit. Doch sie hatte nicht mit mir gerechnet. In jugendlichem Übermut rollte ich ein Tischlein in ihr Zimmer, forderte sie auf, mich ganz fest zu umarmen, setzte sie im Bett auf, guckte sie an, bis ihre Augen pfiffig leuchteten, hievte sie auf das Rollobjekt und fuhr sie in den Wohnraum, wo man uns mit Freudenrufen empfing. Ruths Lebenswille war neu erwacht. Ihr Platz am Tisch wurde ihr Ehrensitz, und als sie Jahre später starb, geschah das genau dort.

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In der Küche war alles bereitgestellt, so konnten David und ich realisieren, was zu tun war, wenn wir auch zwischendurch im stets neu entstehenden Chaos den Überblick verloren: Tische und Sessel herrichten, Essen servieren, Kerzenschein nachladen, Beruhigen, Stützen, Taschentücher organisieren, Telefonate vermitteln, sofern überhaupt eine Leitung zustande kam.
 
Waren wir zu Anfang an die zwanzig Leute, gesellten sich bis nach Mitternacht über ein Dutzend hinzu. Ich kannte sie nicht alle, und es ist ein Geheimnis geblieben, wie Rahel damals genügend und so feine Speisen und Leckereien für alle vorbereitet hatte.
 
Ziemlich ausgepowert räumten wir am frühen Morgen die wichtigsten Dinge weg. Es war still geworden, die Gäste waren nach Hause gegangen oder hatten sich hingelegt, als David mit einer Decke herkam, sich auf Mamas grossem Sessel einrichtete und meinte: «Jan schläft in meinem Bett.»
 
Ich fühlte mich unvermittelt seltsam verloren, leinte meine Hunde an, und wir marschierten durch die Nacht am Sportzentrum vorbei in Richtung einer kleinen Wiese. Vielleicht war es die Kälte, vielleicht auch nur die frische Luft, die mich bewogen, inne zu halten. Ich stand unter einer Strassenlaterne, die Hunde fixierten mich, als mir jenes Bild erschien, das sich vor wenigen Jahren in Weimar eingebrannt hatte. Es war an einem grauen September-Nachmittag gewesen.
 
Ich hatte ein Restaurant betreten, in dem an die fünfzig Menschen sassen und sich anschwiegen oder nur sehr leise miteinander sprachen. Eine völlig dumpfe Situation in Graubraun-Tönen. Ich weiss bis heute nicht, ob meine Empfindung einer immensen Traurigkeit dieser Menschen auf deren Realität wirklich zutraf. Jedenfalls war ich auch da nur gestanden, hatte geschaut, hatte die unvergleichliche Bedrücktheit in mich aufgenommen, und war weggegangen, ohne Gast gewesen zu sein.
 
Als das Bild der Erinnerung sich auflöste, erreichte mich das neue Gefühl: «Hey, die Mauer ist offen!» Und ich dachte daran dass, Goethes Garten, der Ginkgo, die Elbufer, die Bibliotheken, Schlösser und Museen nun einfacher zu erreichen waren. Und um jene traurigen Menschen fröhlicher zu stimmen, würde viel Zeit vergehen müssen.
 
Als ich um vier Uhr nach Hause kam, schlummerten in meinem Bett einige Kinder. So holte ich meinen Schlafsack und legte mich samt Hunden zu Füssen Davids, um einer neuen Zeit entgegenzuträumen.
 
Noch wusste ich nicht um die grossen existenziellen Unterschiede, die Ossis und Wessis trennen würden. Und ich wusste nicht, dass am vergangenen Abend eine Frau nach ihrer Arbeit im MfS in die Sauna gegangen war. Und ich wusste nicht, dass sich diese Frau später über diverse Instanzen hochangeln würde, um deutsche Bundeskanzlerin zu werden.

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