Dienstag, 27. Oktober 2009

Libyen-Konflikt: Jean Zieglers Vorschläge fruchten

Jean Ziegler beschrieb in der Sendung «Rundschau» die Situation Libyens als eine auch affektive, die es auch mit psychologischen Mitteln zu lösen gelte. Dazu seien die bilateralen Verhandlungen ausgeschöpft, es blieben aber noch Möglichkeiten über Dritte.

Ein Woche später zeichnen sich erste Wege ab:
  • Die Zentrale der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) in London will mit Libyen Kontakt aufnehmen oder eine «Urgent Action» (massenweise Appelle, Bitten oder Beschwerden) auslösen.
  • Die Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) bietet ihre Hilfe an, im Schweiz-Libyen-Konflikt zu vermitteln, indem sie einen Mediator ernennt.
  • Daneben boten unter anderem die USA und Spanien ihre Hilfe an.
  • Eine weitere Möglichkeit wäre, mit Kanada zusammenzuarbeiten, da auch dieses Land von Gaddafi schikaniert wird mit «Visa-Verboten» für Kanadier.
Sonja Hasler

Sonja Hasler ist seit 2006 Schweizer Moderatorin und Redaktorin der Rundschau auf SF 1.
 
Sie studierte Germanistik, Theologie und Psychologie in Bern und San José auf Costa Rica.

 
Jean Ziegler

Jean Ziegler ist Schweizer Soziologe, Politiker und Sachbuchautor. Von 1967 bis 1983 und von 1987 bis 1999 war er Genfer Nationalrat.
 
Von 2000 bis 2008 war er UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung - zuerst im Auftrag der Menschenrechtskommission, dann des Menschenrechtsrats - sowie Mitglied der UN-Task-Force für humanitäre Hilfe im Irak.
 
2008 wurde Ziegler für ein Jahr in den Beratenden Ausschuss des Menschenrechtsrats gewählt. Er ist ausserdem im Beirat der Bürger- und Menschenrechtsorganisation Business Crime Control.

 

Zusammenfassendes Transkript

Autoren: Schweizer Fernsehen, web.quantensprung


 
Hasler :  Bei uns im Studio begrüsse ich Jean Ziegler, Libyenkenner und Herausgeber des Buches: «Der Hass auf den Westen».
Guten Abend Herr Ziegler.

 
Ziegler :  Guten Abend.
 
Hasler :  Wir sahen es soeben im Film: Den Aussenpolitikern platzen die Krägen, sie sagen, es sei genug, und sie fordern eine härtere Gangart gegen Gaddafi.
Haben Sie Verständnis für diese Haltung?

 
Ziegler :  Ich habe Verständnis, bin aber nicht damit einverstanden. Sicher ist, dass die Schweiz im Recht ist. Die Geiselnahme ist ein totaler Skandal und müsste morgen beendet werden, aber ein Konfrontationskurs ist das Schlimmste, was man machen könnte.
 
Hasler :  Warum? Muss die Schweiz jetzt nicht Stärke beweisen?
Die weiche Tour mit Herrn Gaddafi brachte keine Ergebnisse.

 
Ziegler :  Die Aussagen meiner ehemaligen Kollegen sind völlig falsch. In einem Konflikt zwischen zwei souveränen Staaten gibt es drei Möglichkeiten:
 
Eine militärische Intervention, was nicht in Frage kommt.
Wir könnten wirtschaftliche Sanktionen ergreifen gegen den siebent grössten Erdölproduzenten der Welt. Ein solcher Investitionsstopp wäre komplett sinnlos, weil Deutschland, Frankreich oder ein anderes Land unsere Marktanteile sofort übernehmen würden.
 
Hasler :  Ein Visa-Stopp wäre eine weitere Möglichkeit, oder nicht?
 
Ziegler :  Das wäre noch schlimmer. Libyen besitzt die grösste Erdölraffinerie und 300 Tankstellen in der Schweiz, die von libyschem Öl abhängig ist.
 
Die dritte Möglichkeit einer Konfrontation ist der Gang an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, den die UNO-Charta vorsieht. Dort können wir gegen Völkerrechtsverletzungen klagen, aber das würde zehn Jahre dauern.
 
Hasler :  Sie denken, dass all diese Massnahmen Herr Gaddafi nicht im Geringsten beeindruckt?
 
Ziegler :  Die Visa-Geschichte ist schlicht lächerlich. In Europa gibt es 27 Staaten. Wenn die Schweiz nun keine Libyer mehr im Land haben will, so weichen diese nach Paris oder London aus. Das ist eine absolut sinnlose Massnahme. Ich empfehle dringend, bilaterale oder multilaterale Verhandlungen fortzuführen. Das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) leistete bis anhin grossartige diplomatische Arbeit.
 
Hasler :  Sie führten bilaterale Verhandlungen, die zu nichts führten!
Welche Massnahmen sind nun gefragt?

 
Ziegler :  Mein Vorschlag ist, eine Drittperson zu suchen, die das Gespräch mit Gaddafi aufnimmt. Das könnte z. B. ein ehemaliger Staatschef aus der Maghreb-Region sein. Dieser besitzt grossen psychologischen Einfluss auf Gaddafi, weil er sein Lehrmeister war. Ich sah die beiden zweimal zusammen in Gaddafis Büro. Ich wurde mehrmals von Gaddafi eingeladen und konnte dabei ihre enge Beziehung beobachten.
 
Hasler :  Wollen Sie uns nicht den Namen dieser Person nennen?
 
Ziegler :  Nein, Bern soll dies tun. Nur über eine Drittperson kann eine Lösung gefunden werden.
 
Hasler :  Aber Gaddafi will keine Einmischung von Drittstaaten.
Er will diese Familienangelegenheit bilateral lösen.

 
Ziegler :  Die libysche Machtstruktur ist unglaublich kompliziert. Es ist eine Allianz von fünf Beduinen-Föderationen und der Küsten-Bourgeoisie von Benghazi, Tripolis, usw. Gaddafi ist kein Diktator... ... aber er zeigt seit Tagen das Gesicht eines Diktators.
 
Ein Diktator entscheidet rücksichtslos. Gaddafi hält eine heikle Position inne. Sein Stamm ist der kleinste und schwächste dieser fünf Föderationen. Deshalb ist er auch Präsident des Revolutionsrates.
 
Wenn Gaddafis Familienehre verletzt wird, ist das eine affektive Sache, die er rächen muss, damit er seine Schiedsrichterfunktion innerhalb des komplizierten Machtgefüges behalten kann.
 
Deshalb gibt es nicht nur eine rationale Sicht der Dinge, sondern auch eine affektive Sicht. Wenn ein Unterhändler Einfluss auf Gaddafi hat, weil er in der Politik seit Jahren sein Lehrmeister war, so ist das ein Weg, der zum Ziel führen könnte.
 
Hasler :  Andere Möglichkeiten böte die Zusammenarbeit mit Amerika oder Frankreich.
 
Ziegler :  Nein. Die Europäer freuen sich über den Konflikt. Der Staatsfond Libyens beträgt 136 Milliarden Dollar. Im kapitalistischen Dschungel gibt es keine Solidarität. Wenn die Schweiz aus Libyen herausfällt, kommen sofort amerikanische oder europäische Konzerne, die die schweizerischen Marktanteile übernehmen.
 
Bundesrätin Calmy-Rey leistete Grosses für die Amerikaner. Auch Herr Ambühl geniesst grosses Ansehen in Washington. Die Amerikaner kämpfen mit den Libyern am Südrand der Sahara gegen Al-Kaida.
 
Libyen ist das einzige der sechs Maghreb-Länder, das die islamistischen Fundamentalisten besiegte. Deshalb ist die Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste von den USA und Libyen sehr eng. Die USA könnten direkten Einfluss auf den Revolutionsrat ausüben.
 
Hasler :  Haben die USA ein Interesse daran, für die Schweiz die Kohlen aus dem Feuer zu holen?
 
Ziegler :  Die Schweiz ist eine prestigereiche Demokratie, das ist eine gewichtige Sache. Innenpolitisch braucht Gaddafi die Schweiz. Nach dreizehn Jahren Boykott durch die UNO und die USA vollführte Gaddafi eine Kehrtwendung.
Die freien Offiziere kamen am 01.09.1969 an die Macht, als Gaddafi 27 Jahre alt war.
 
Über zwei Generationen wurde antiwestliche Politik betrieben, die sogenannte antiimperialistische Befreiungsbewegung. Vor zwei Jahren kam plötzlich Herr Bush und befahl ein Ende des Nuklearprogrammes. Er drohte mit Bombardierung, falls Libyen nicht der westlichen Allianz beiträte.
 
Ich kenne Gaddafi sehr gut, er ist ein schlauer Mann. Damals vollführte Gaddafi eine Kehrtwendung um 180 Grad, die er aber seinem Volk erklären musste.
 
Hasler :  Braucht er die Schweiz als Feindbild?
 
Ziegler :  Genau, als Prügelknabe, weil die Schweiz als Prestige-Demokratie einen hohen Symbolwert besitzt. Indem Gaddafi nun auf die Schweiz einprügelt, kann er seinem Volkskomitee und der Öffentlichkeit zeigen, dass sich Libyen von der Genfer Polizei nicht in die Knie zwingen liess. Innenpolitisch ist das ein sehr wichtiger Trumpf, den Gaddafi in Händen hält.
 
Hasler :  Alles dreht sich um zwei Geschäftsleute, die in Libyen gefangen gehalten werden. Haben Sie eine Vermutung, wo sich die Geiseln befinden?
 
Ziegler :  Libyen ist 1,2 Mio. km2 gross.
 
Hasler :  Sind sie im Gefängnis oder in der Wüste?
 
Ziegler :  Das weiss niemand. Auch das Internationale Rote Kreuz (IKRK) hat keinen Zugang. Das EDA versuchte alles Mögliche, um mit den Geiseln in Kontakt zu treten. Die Geiseln werden irgendwo festgehalten.
 
Hasler :  Ist es möglich, dass ihnen dasselbe Schicksal widerfährt wie den bulgarischen Krankenschwestern, die unschuldig acht Jahre im Gefängnis sassen?
 
Ziegler :  Fünf Krankenschwestern und ein palästinensischer Arzt sassen acht Jahre im Gefängnis. Sie arbeiteten im Krankenhaus von Benghazi, dem grössten Krankenhaus Libyens. Für AIDS-infizierte Kinder benötigte man damals Sündenböcke.
 
Hasler :  Handelt es sich nun um eine andere Situation?
 
Ziegler :  Ganz anders, weil Interessen im Spiel sind.
 
Hasler :  Wir müssen zum Schluss kommen. Ein letztes Wort?
 
Ziegler :  Die erste Etappe, in der die Schweiz selbst bilaterale Verhandlungen führte, ist vorbei. Ein Kollisionskurs wäre absurd und würde zur totalen Niederlage führen. Wir besitzen aber Optionen, um über Drittparteien Einfluss auf Gaddafi und den Revolutionsrat auszuüben.
Es geht nicht nur um Gaddafi, sondern um die 15 Revolutionsräte.
Auf diesem Weg könnten wir Gaddafi zur Vernunft bringen.
 
Hasler :  Das hoffen wir alle auch.
Dieses Thema wird uns noch länger beschäftigen. Danke für Ihren Besuch!

 
Ziegler :  Ich danke Ihnen.

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