Sonntag, 10. Oktober 2010

Jörg Kachelmann: Intuition und Fiktion

RESET
Ich war bis anhin weder der Berichterstattung Alice Schwarzers noch dem mutmasslichen Vergewaltigungsopfer im Fall Kachelmann sehr zugetan.
Der letzte Text hingegen, der zumindest grafisch unter Alice Schwarzer läuft (Ich hoffe, das gelte als Autoren-Visum.), ist anders als die früheren es waren, und besitzt eine intuitive Komponente, auf der ich meine Fiktion aufbaue.
 
Das bedeutet aktuell: Zurückstellen aller andern Mutmassungen und Deutungsvarianten, ein Reset eben. Der Teufel liegt im Detail, und ich hoffe, Schwarzer nicht profund falsch verstanden zu haben. Des weiteren werde ich im Folgenden den Begriff «mutmasslich» bewusst weglassen, wer möchte, kann ihn jederzeit hineinlesen.
 

 

Keine Gutachterschlacht

Focus titelte am 18.09.2010 «Schlammschlacht der Gutachter», und die Süddeutsche beschrieb am 01.08.2010 unter «Ein öffentliches Geschäft»

«Seriöse Blätter wie der Spiegel, die Zeit und auch die Süddeutsche Zeitung berichteten ausführlich über die Gutachterschlacht "im spektakulärsten Kriminalfall des Jahres", wie vorige Woche der Stern verkündete.»

Zu einer Schlacht um Gutachten bzw. deren Inhalte ist es bis heute nicht wirklich gekommen, da Wesentliches vom Gericht in Mannheim wegen deren Befangenheit bzw. jener der Autoren abgeblockt wurde.
 

Schwarzers Intuition

So äussert sich zwar Frau Schwarzer in der Bild vom 08.10.2010 unter dem Titel «Droht Kachelmann ein weiterer Rückschlag?» über einige Gutachter und Traumatologen, beschreibt Reaktionen traumatisierter Menschen, schreibt über die Schockstarre und Gedächtnisverlust, bleibt hingegen weitgehend im Bereich der Intuition:

«Zwar kann die Erinnerung an das Grauen auch wie eingebrannt sein, wie die Verteidigung behauptet – aber sie kann auch im Gegenteil diffus und wortlos sein, wie der Therapeut der Ex-Freundin darlegt. Beides ist möglich, das wird nach der Lektüre klar.
 
Sprachlos und wie gelähmt reagieren vor allem Opfer, die schon mal ein traumatisches Erlebnis hatten – oder die so eingeschüchtert sind, dass sie keinen Ausweg mehr sehen.
 
Zur letzteren Kategorie scheint Kachelmanns Ex-Freundin zu gehören. Vieles deutet darauf hin, dass sie besonders eingeschüchtert ist bzw. war. So wartete sie elf Jahre lang geduldig auf ihn und fügte sich willig seinen Sexpraktiken. Und sie wagte es auch nicht, ihren Freund wegen der anderen – die sich dann als viele andere herausstellten – sofort zur Rede zu stellen.
 
Über Monate hatte die Radiomoderatorin hinter der anderen her recherchiert. Doch statt Kachelmann ganz einfach zu fragen, täuschte sie in einem komplizierten Manöver eine von Dritten zugespielte Information vor – nämlich mit einem selbst verfassten Brief, in dem es hieß: Er schläft mit ihr! Und das alles, weil sie offensichtlich zu schwach war, ihn direkt zur Rede zu stellen. "Gelernte Hilflosigkeit" nennen das die Psychologen.»


 

Meine Fiktion

Carry Silke Winkel wurde vergewaltigt, schwer traumatisiert und leidet unter allem, was ein solches Verbrechen an Folgeschäden in einem Menschen hinterlassen kann. Die posttraumatische Belastungsstörung behindert sie in vielen Dingen, erschwert ihre Beziehungen zu Partnern, lässt sie beruflich nie so richtig Fuss fassen, obschon sie sowohl von ihren Talenten als auch ihrer Attraktivität her, allem voll genügte.
 
Die Beziehung zu Jake war schief: Carry erhoffte sich eine Art bedingungslose und dauerhafte Liebe, Jake sah sie locker als Fernbeziehung, bei der er hin und wieder gerne kurz verweilte, die Augenblicke genoss, um sich danach andern Abenteuern zuzuwenden.
 
Als Carry diese fundamentale Dissonanz bemerkte, brach zwischendurch Verlustangst mit geballter Kraft über sie ein. Jake, der für sie Sicherheit bedeutete, war weg, die Eltern liess sie im Glauben an eine stimmige Beziehung, sprechen konnte sie mit keinem, so suchte sie im Netz nach Hinweisen, um ihre Ängste zu bestätigen oder zu tilgen.
 
Sie traf auf Frauen, die in einer Beziehung zu Jake standen oder gestanden hatten, diese sprachen jedoch ganz anders, als sie die Situation empfand, sie waren viel selbstständiger, vielleicht vulgärer und verfügten über eine Stärke, die Carry stets gesucht und nie gefunden hatte: eine gewisse Selbstständigkeit der Persönlichkeit.
 
Erinnerungen vereinnahmten sie oft blitzartig, sie besass keine Kontrolle über sie, so sehr sie sich auch bemühte, die Bilder in den Griff zu kriegen und zu konkretisieren. Sie war ihnen ausgeliefert, und jeder neue Blitz bedeutete Rückschlag, Leiden, Verwirrung, Verzweiflung, Lähmung und Sprachlosigkeit.
 
Diesem inneren Treiben hilflos unterlegen, schaffte sie es immerhin, manchmal listige Ideen zu entwickeln. Sie notierte sich die verrücktesten Geschichten, das gehörte zu ihrem Überlebenskampf. Und wenn nichts sonst sich konkretisierte, die Ideen gestalteten sich immer klarer und dämpften alle Verletzungen, die Wut und das Gefühl verlorener Ehre.

Das Kind erledigt seine Schulaufgaben, die Frau nimmt am Vereinsanlass teil wie jeden Dienstag. Die Kleine arbeitet unkonzentriert und konfus, bald wird er sie ins Wohnzimmer rufen. Sie steht auf, geht durch den Flur, wo links oben die Fliegenklatsche hängt. Einmal würde sie sich wehren. Einmal würde sie ihn damit auspeitschen, dann wird sie erlöst sein. Sie betritt das Wohnzimmer.

Und wenn er sie doch nicht liebte? Hatten die andern Frauen recht? Wohin sollte sie flüchten, wenn nicht zu Jake, – um danach mit ihm zu fliehen? Weg aus der Nähe zu den Eltern, weg aus der Provinz in die Freiheit! Allein hatte sie es nie geschafft, hatte während Jahrzehnten bloss gewünscht, dass einer käme und sie mitnähme.
 
Die Sache mit dem «Auf die Probe stellen» fand sie durchschlagend, das Beschaffen der Flugtickets hatte sie gigantisch hingekriegt. Und sollte er sie nicht mehr wollen, zöge sie Bilanz. Es war bloss ein Satz, der Name und Tat enthalten musste. Die Tat und der Name! Nur das.

Er geht in die Küche, kommt mit dem Messer in der Hand zurück, schneidet sich ein Stück Wurst ab, schiebt es in den Mund und kaut, während ihm Speichel in kleinem Rinnsal übers Kinn läuft. Er nimmt sie mit der Rechten an der Hand und zerrt sie zum Gästezimmer. Das Kind stolpert an der Bettvorlage, er fängt es zusätzlich seiner Linken auf und verletzt es mit dem Messer leicht am Hals. Er entschuldigt sich undeutlich, legt das Messer auf das Nachttischen, das Kind entkleidet sich.

Sie ging durch tausend Höllen, empfand sich seit dem Entschluss, endlich voll zu bilanzieren, doch kräftiger und stellte den Detailplan für die nächste Nacht mit Jake minuziös zusammen. Sollte er die Probe mit den Flugtickets nicht bestehen, würde sie sich sofort von ihm trennen. Das ersparte ihr Leiden. Auch die mit Warten und Hoffen auf Jake verbrachten Jahre gewännen so noch einen Sinn. Sie erwog, sich je nach Verlauf der Dinge sogar selbst zu verletzen, sich zumindest blaue Flecken zuzufügen. Sie musste alle Register ziehen, um nicht wieder in den Zustand jener Sprach- und Hilflosigkeit zu verfallen, in dem Worte und Sätze sich zu jenem Wirbel formten, der alles Denken verdunkelte und sich derart verdichtete, dass sie in dessen Sog alles verwechselte und vieles vergass.
 
Es war Sport, und Training bedeutete alles. Nie mehr verzagen, sich nie mehr in die totale Verschüchterung treiben zu lassen, in der Ziele verschwammen und alle Anstrengungen in Ausweglosigkeit endeten. Sie übte vor dem Spiegel, rezitierte die vorbereiteten Sätze erst von der Vorlage, dann ohne, sie sprach kräftig und entschlossen und schaute sich in die weit aufgerissenen Augen. Nur das: die Tat und der Name.

Sie liegt auf dem Bett und versucht verzweifelt die Augen zu schliessen, um wegzufliegen, bevor er sich auf sie legen kann, und bevor die unaussprechlichen Qualen beginnen. Sie schwebt über ein buntes Blumenmeer dem Himmel entgegen. Man wird sie empfangen und ihr helfen, sie hatte sie Tausende von Malen gebetet: «Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm». Als die Schmerzen beginnen, hat sie sich von sich abgespaltet, und blickt über den Wolken dem Himmelstor entgegen.

Der Abend war gelaufen. Jake hatte die Probe nicht bestanden, sie hatte sich von ihm getrennt, er war gegangen. Der Plan war bis zu diesem Punkt abgearbeitet. Sie war stolz und klammerte sich, bis die Eltern aufgestanden waren, an diesem Gefühl fest. Weder der Sprachlosigkeit noch der unsagbaren Einsamkeit durfte sie jetzt nachgeben.
 
Eigentlich war es nur noch ein Klacks, nur ein Satz, nur die Tat und den Namen des Täters, dann war sie frei und gesund und kräftig wie alle andern. Die Eltern sahen sie überaus forschend an, sie begann zu erzählen, und als die Fragen nach dem Was, Wer, Wann kamen, schwebte er direkt über ihr.

Es ist getan. Er rüttelt sie grob an der Schulter und reisst sie aus dem Himmelstraum. Während sie sich ankleidet, ergreift er das auf dem Nachttisch liegende Messer:
«Schau hin! Wenn Du jemandem was erzählst, werde ich Dich und andere damit töten. Du bist schuld, vergiss das nie.»
«Ja, ich werde schweigen für immer und ewig», verspricht sie, schlüpft in die Pantöffelchen und geht in ihr Zimmer. Auf dem Schreibtisch liegen im Lampenschein die Rechenaufgaben. Sie kneift sich fest in den Arm und verspürt keinen Schmerz dabei, denn sie ist ein tapferes Kind.

«Er hat mich vergewaltigt!» stiess Carry hervor.
«Wer?»
«Es war  …  Jake».
 
Während die Eltern vor Entsetzen zuerst schwiegen und sich danach über die beste Strategie berieten, bohrte sich Carry die Fingernägel in den Unterarm und verspürte keinen Schmerz dabei. Der letzte Punkt war abgearbeitet, doch etwas war schief gelaufen. Sie fühlte sich erschöpft und benommen, und erst, als ihr der Vater das Telefon übergab, um das Verbrechen der Polizei zu melden, schien ihr, als hätte sie etwas durcheinandergebracht.
 
Oder doch nicht? Nein, jetzt bloss nicht aufgeben! Er war es! Er musste es gewesen sein! Und sie klammerte sich an den Namen Jake, als könnte ein anderer ihr das Leben kosten. Die Hauptsache war getan, sie hatte das Verbrechen gemeldet.
Alles andere würde sich aufklären lassen.
Später, irgendwann später.
 

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